»Semantische Kämpfe« in Wissensdomänen

Herrschaft und Macht werden auch über Semantik ausgeübt. Betrachtet man Sprache als Medium zur Durchsetzung bestimmter Sichtweisen auf gesamtgesellschaftlich umstrittene Sachverhalte in unterschiedlichen Wissensdomänen (z.B. Medizin, Wirtschaft, Architektur, Naturwissenschaft, Technik, Politik, Geschichte, Recht usw.), so offenbaren sich "hinter" fachlichen Auseinandersetzungen gleichsam Auseinandersetzungen um angemessene Bezeichnungen und Bedeutungszuschreibungen, kurzum "semantische Kämpfe". Und es zeigt sich, wie Sprache "vor" der Konstituierung der Sachverhalte die fachspezifischen Wissensrahmen (mit)strukturiert, wie also Wissen durch Sprache entsteht.

 

Sem KaempfeFelder, Ekkehard (Hg.): Semantische Kämpfe.
Macht und Sprache in den Wissenschaften.

Berlin/New York: de Gruyter
(Linguistik - Impulse & Tendenzen 19).



 

 

 

Herrschaft und Macht werden auch über Semantik ausgeübt. Diese erkenntnisleitende These der in diesem Sammelband zusammengetragenen Einzeluntersuchungen rückt die sprachliche Konstitution fachlicher Gegenstände bzw. Sachverhalte in den Untersuchungsmittelpunkt und berührt damit den linguistischen Bereich der Semantik. Berücksichtigt man darüber hinaus die Annahmen der linguistischen Pragmatik, die sich die Untersuchung sprachlichen Handelns zum Ziel gesetzt hat, so stellt sich die Frage, wie lassen sich unterschiedliche sprachliche Handlungsstrategien (beim Benennen und Bedeuten) beschreiben. Bei einem solchen Erkenntnisinteresse - bezogen auf gesellschaftlich relevante Wissensdomänen bzw. Wissenschaftsdisziplinen - stößt man unweigerlich auf mehr oder weniger subtile Formen des Dissenses. Ein Dissens wird aber gerade in fachsprachlich bestimmten und fachkommunikativ konventionalisierten Diskursen nicht immer explizit ausgetragen, sondern oft implizit. Für den Außenstehenden ist daher nicht jeder fachliche Dissens leicht zu durchschauen, weil er sich in Form verschiedener Begriffsvorstellungen bei gleichen Ausdrücken widerspiegeln oder hinter vermeintlichen Synonymen verbergen kann. Damit sind wir beim Problem unterschiedlicher Bedeutungen (Bedeutungsakzentuierungen), die den weit verbreiteten Ansichten der eineindeutigen Fachsprachen offensichtlich widersprechen. Die Schwierigkeit besteht aber darin - und das verschärft die angesprochene Problematik -, dass diese »versteckten« Bedeutungsunterschiede ein Indiz für bestimmte Wissenschaftsrichtungen darstellen können, ohne dass dieser Zusammenhang für das gesamtgesellschaftlich interessierte zoon politikon zu durchschauen wäre.

Dieser Umstand ist nicht unproblematisch: Denn solche semantischen Kämpfe verlaufen oft sehr heftig, können sich über Jahre bzw. Jahrzehnte hinziehen und Wissenschaftsgeschichte schreiben. Von grundsätzlicher Bedeutung ist jedoch der Umstand, dass sie den Forschungsgegenstand erst (mit)konstituieren. Sie sind so notwendige Voraussetzung für das Verständnis wichtiger Forschungsfragen, denn hinter den Begriffen stehen ja gemeinhin ganze Schulen bzw. ein definiertes, methodisch durchorganisiertes Erkenntnisinteresse. Die Durchsetzung spezifischer Fachterminologien in der Auseinandersetzung mit sozial-, geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Sachverhalten stellen so gesehen den Versuch dar, die Welt bzw. einen Weltausschnitt zentralperspektivisch als Systemraum von einem spezifischen Sehepunkt aus durchzustrukturieren.

Literatur

Felder, Ekkehard (2018):  Anmaßungsvokabeln: Sprachliche Strategien der Hypertrophie oder der Jargon der Anmaßung. In: Wengeler, Martin/Ziem, Alexander (Hg.): Diskurs, Wissen, Sprache. Berlin/ Boston: de Gruyter (Sprache und Wisse, Bd. 29), S. 215–240.

Felder Ekkehard (2017): Anmaßung in der politischen Sprache – nicht nur ein Merkmal sogenannter Populisten. In: IDS Sprachreport 2/2017, S. 44–49.

Felder, Ekkehard (2014): Semantischer Kampf. Wie Sprache eint und trennt. In: Forschungsmagazin Ruperto Carola 1/2014, Themenheft „Krieg & Frieden“, S. 108–115.

Felder, Ekkehard/Stegmeier, Jörn (2012): ,Menschenwürdig sterben’ versus ,menschenwürdig leben bis zuletzt’: Semantische Kämpfe in einem Textkorpus zum Sterbehilfe-Diskurs. In: Handbuch Sterben und Menschenwürde. Hrsg. von Michael Anderheiden und Wolfgang U. Eckart. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 329346.

Felder, Ekkehard (2010): Semantische Kämpfe – Die Macht des Deklarativen in Fachdiskursen. In: Fuchs, Thomas / Schwarzkopf, Grit (Hg.): Verantwortlichkeit – nur eine Illusion? Verlag: Universitätsverlag Winter, S. 13–59 (Reihe: Schriften des Marsilius-Kollegs, Bd. 3).

Felder, Ekkehard (2006): Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Felder, Ekkehard (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter, S. 13–46.

Letzte Änderung: 09.09.2021
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